Der Bus nach Rishikesh an Pfeiler 26 in Delhi wartet tatsächlich auf mich – obwohl ich fast 50 Minuten zu spät bin. Aber was bedeutet schon ein Fahrplan in Indien, in diesem Land herrscht „IFT“, Indian Flexi Time. Und dieses Mal ist diese Flexibilität zu meinen Gunsten. Er habe schon nach mir gesucht, vor dem Eingang der Metrostation, höre ich von dem Ticketkontrolleur. Aha. Wäre ich vielleicht doch besser einfach dort stehen geblieben, anstatt bei dieser Gluthitze wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend zu rennen und alle verrückt zu machen. Aber jetzt ist ja alles gut. Rishikesh, here I come.
Normalerweise kann ich in Bussen immer gut schlafen, aber dieses Mal ist alles anders. Es fängt schon damit an, dass wir gut anderthalb Stunden kreuz und quer durch den Großraum Delhi kreisen, um weitere Fahrgäste einzusammeln, bis wir wieder in der Nähe unseres Ausgangspunkts sind und dort auf die Schnellstraße einbiegen. Der Bus ist rappelvoll. Was wollen denn all diese Menschen zu dieser Jahreszeit in Rishikesh? Es ist doch viel zu heiß dort und außerdem heißt es, der Monsun könne jeden Tag beginnen.
Trekkingtour zu den heiligen Quellen des Ganges?
Vielleicht sind meine Mitreisenden alle Wallfahrer, die sich über die Pilgerpfade auf den beschwerlichen Weg zu den Heiligtümern an den vier Quellen des Ganges begeben. Hmm, so sehen zumindest die jungen Typen, die sich jede halbe Stunde in das abgetrennte Fahrerabteil zum Rauchen verziehen, nicht aus. Nochmals meine Wanderstiefel anzuziehen und zumindest eine der Tempelanlagen Yamunotri, Gangotri, Badrinath oder Kedarnath zu Fuß zu erobern, hatte ich mir auch kurzzeitig überlegt. Nach vier Wochen in Ladakh bin ich ja höhenerprobt und Drei- und Viertausender flößen mir keine Angst mehr ein. Doch die Monsunzeit erscheint mir für eine solche Pilgertrekkingtour nicht ganz so geeignet. Mich unter Umständen tagelang bei strömendem Regen durch den Matsch zu kämpfen, war wenig verlockend. Lieber ein anderes Mal, außerhalb der Regenzeit, vielleicht im Juni oder im September.
Wie ich bei meiner Ankunft in Rishikesh erfahren sollte, war tatsächlich gerade eine besondere Spezies Pilgerer unterwegs. Schon während der Fahrt wundere ich mich über den Verkehr und die unzähligen Busse, die sich über die schlecht asphaltierte Straße und die zahlreichen Baustellen durch die Nacht Richtung Norden kämpfen. Und ich wundere mich noch mehr darüber, dass ich überall orange sehe. Nein, keine wallenden Hare-Krishna-Gewänder wie in dem Film „Sommer in Orange“, sondern orangefarbene T-Shirts. An männlichen Teenagern. Überhaupt sehe ich in den anderen Bussen, die uns überholen und die wir überholen, fast ausschließlich Jungens im Alter zwischen 14 und 20. Klassenfahrt?
Ist zufällig Kumbh Mela in Haridwar?
Nach einer mehr oder minder durchwachten Nacht erreichen wir am frühen Morgen Haridwar. Von hier sind es noch ungefähr 25 Kilometer bis Rishikesh. Mit uns ist der Monsun angekommen. Dicke Tropfen platzen auf der Frontscheibe des Busses. Halleluja. Das kann ja spaßig werden. Haridwar ist übrigens einer von vier heiligen Orte, die abwechselnd Schauplatz der berühmten Kumbh Mela sind, einem der größten Wallfahrtsspektakel Indiens, bei dem Millionen von Pilgern zu rituellen Bädern in heiligen Flüssen wie dem Ganges zusammen kommen, um sich von ihren Sünden rein zu waschen. Vielleicht habe ich etwas verpasst. Vielleicht wollen die Heerscharen der in orangefarbenen T-Shirts und Shorts gekleideten Jünglingen, die ich in den Bussen gesehen habe und die mit Girlanden geschmückte Götterfiguren, Trommeln und Dreizacke durch den immer dichter werdenden Regen tragen, zu Kumbh Mela. Ich sehe auch ein paar halbnackte, mit Asche beschmierte Naga Babas an einem der Ghats, die zum Ganges hinunter führen. Doch das zwölf Tage und zwölf Nächte dauernde Spektakel fand zum letzten Mal 2010 in Haridwar statt, 2014 ist Pause. Es muss also aktuell etwas anderes in Haridwar stattfinden, von dem ich bisher nichts weiß.
Wir fahren durch Rishikesh, der offizielle Busparkplatz ist schon belegt, wir halten irgendwo in einer Sackgasse abseits der Hauptstraße. Inzwischen weiß ich, was Monsunregen ist. Ich bin binnen einer Minute tropfnass. Die Schirmverkäufer, die auf die Neuankömmlinge warten, wimmele ich ab, ebenso die, die mir überteuerte Plastikcapes andrehen wollen. Das passt doch sowieso nie und nimmer über meine zwei Rucksäcke. Apropos Rucksack, der liegt immer noch im Gepäckraum des Busses, warum macht der Fahrer die Klappe nicht auf? Ich will nur noch weg hier und in ein trockenes Hotelzimmer. Das sollte jedoch noch eine Weile dauern und lange Diskussionen mit dem Fahrer des einzigen Vikram vorangehen, das ich hier sichte. Vikrams sind etwas größere Rikschas und werden in dieser Gegend als Shared Taxis genutzt. Wie nicht anders zu erwarten, nutzt der Fahrer meine Situation aus und will einen Wucherpreis von mir. Es sei „festival season“. Aha, was für ein Festival feiere denn man hier. Er zuckt die Achseln. Wenn ich nicht hier versauern will, muss ich ihm wohl die 250 Rupien zahlen, damit er mich zur Ram-Jula-Brücke bringt. Wenn er mich wenigstens direkt bis zu meiner Unterkunft bringen könnte! Doch in den Ortsteilen von Rishikesh direkt am Ganges sind nur Jeeps erlaubt und man müsste zudem einen riesigen Umweg machen, um auf die andere Seite des Flusses zu kommen. Also zu Fuß die fünfundzwanzig Minuten bis zum Hotel laufen.
Womit habe ich das verdient? Schwer bepackt und durch die Regentropfen auf meiner durch die dampfigen Temperaturen beschlagenen Brille halbblind versuche ich, mich durch die orangefarbene Menschenmasse auf der Brücke durchzuquetschen. Irgendwie suche ich mir wohl immer einen falschen Zeitpunkt für einen Besuch in Rishikesh aus. Als ich das erste Mal hier war, das war Anfang 2012, war gerade ein hinduistischer Feiertag und die schmalen Sträßchen in Swarg Ashram platzten aus allen Nähten. Dieses Mal ist es noch voller. Der Weg vorbei an dem kleinen Tempel rechts neben der Brücke und durch die Basarstraße gleicht einem Spießrutenlaufen. Überall diese Gruppen mit den orangenen T-Shirts, größtenteils junge Männer, die irgendetwas grölen, das ich ich nicht verstehe. Fast alle rauchen, aber irgendwie sieht das, was sie in der Hand halten, nicht nach normalen Zigaretten aus … Ein paar Familien hier und da. Hoffentlich hat das Hotel hinter dem Parmath Niketan Ashram, in dem ich letztes Mal gewohnt habe, noch etwas frei. Nochmal mit Rucksack bei dem Regen hier durch zu laufen packe ich nicht …
Ich habe Glück und es ist noch ein Zimmer frei, sogar dasselbe, in dem ich vor zweieinhalb Jahren gewohnt habe. Angeblich erinnert sich der Rezeptionist sogar an mich und fragt mich, wie es mir inzwischen ergangen ist. Indische Höflichkeit? Ich jedenfalls erkenne ihn sofort wieder. Ich frage ihn, warum es überall so voll ist und was es mit den vielen Menschen in den orangefarbenen T-Shirts auf sich hat.
Lord Shiva und seine Jünger – auf zur Kanwar Yatra
Ich erfahre, es ist Kanwar Yatra. Nie gehört. Was ist das? Eine Pilgerreise, bei der Hunderttausende Anhänger von Lord Shiva aus Nordindien, vor allem aus Delhi, Haryana, Rajasthan, Punjab, Bihar, Jharkhand, Chhattisgarh und Madhya Pradesh nach Haridwar, Rishikesh und zu den Quellen des Ganges pilgern, zum Teil zu Fuß, zum Teil in den Bussen, die ich gesehen habe. Und das muss ausgerechnet jetzt stattfinden? Ja, es findet immer im Juli statt, denn das ist Shravan, der Monat, der im hinduistischen Kalender Shiva gewidmet ist. Wie lange das Spektakel denn dauert, frage ich. Das gehe noch den ganzen Monat, heute sei der erste Tag. Prost Mahlzeit. Und ich hatte mich für fast eine Woche hier einquartiert, um in Ruhe durch Swarg Ashram, Laxman Jhula und Ram Jula zu spazieren, am Sandstrand des Ganges zu sitzen, dem Wasser beim Fließen zuzuschauen und meinen Gedanken nachzuhängen und den Ausblick auf die Ausläufer des Himalaya zu genießen. Aber das kann ich wohl sowieso vergessen, der Regen hört und hört nicht auf. Ich solle besser in meinem Zimmer bleiben, sagt der Rezeptionist, als er mir den Schlüssel gibt. Es sei nicht ganz ohne mit den jungen Pilgern, die können zum Teil recht wild sein. Das sind ja tolle Aussichten. Wenigstens kann ich durch die großen Fenster in meinem Zimmer die Berge sehen wenn auch etwas wolkenverhangen. Und vielleicht kann ich ja auf dem Teppich neben dem Bett Yoga machen und mein Essen aus dem italienischen Restaurant nebenan aufs Zimmer bestellen …
Ob ich in den fünf Tagen in Rishikesh mein Zimmer wieder verlassen habe, ob ich herausgefunden habe, was die Shiva-Jünger die ganze Zeit grölen und ob es jemals wieder aufgehört hat zu regnen, erfahrt Ihr im nächsten Blogpost …
1 comment