Auf meiner Trekkingtour in Ladakh habe ich immer versucht, nach dem Abendessen nichts mehr zu trinken, obwohl ich mich aufgrund der Höhenluft ständig wie ausgedörrt fühlte. Doch der Gedanke, nachts alleine im Dunklen zur Toilette gehen zu müssen, flößte mir schon im Vorfeld Angst ein. Denn dafür hätte ich das Haus verlassen müssen. Das Toilettenkabuff – ein Holzverschlag oder ein Steinhäuschen mit einem Loch im Boden – lag nicht nur außerhalb des Wohnhauses, sondern meistens richtig abseits, am anderen Ende des Grundstücks oder gar am Rande der Felder, wie in Markha. Auch wenn ich eine Stirnlampe hatte und die Sterne und der Mond die stockfinstere Nacht zumindest ein bisschen erhellten, versuchte ich diese Situation nach Möglichkeit zu vermeiden.
Mehr Mobiltelefone als Toiletten
Dabei war es eigentlich sowieso purer Luxus, in diesen abgelegenen Dörfern im Himalaya, zwei Tagesmärsche von der nächsten Hauptstraße entfernt, überhaupt Toiletten vorzufinden. Denn diese sind in Indien Mangelware. Auf dem Subkontinent gibt es angeblich mehr Mobiltelefone als Toiletten. Angaben der UN zufolge hat fast die Hälfte der indischen Bevölkerung keinen Zugang zu einer Toilette. Für mehr als 650 Millionen Menschen bleibt nur der Gang zu einer der wenigen öffentlichen Notdurftanstalten oder die Verrichtung des Geschäfts im Freien. Wenn man durch die ärmeren Viertel in Delhi oder Kalkutta spaziert, riecht man dies an jeder Ecke. Als ich 2006 das erste Mal in Indien war, wurde ich direkt an meinem ersten Tag mit der Toilettennot konfrontiert. Beim Warten auf eine Fahrradrikscha in den Gassen von Old Delhi hockt sich ein paar Meter neben uns ein älterer Mann hin und uriniert in den Rinnstein. Weit und breit keine öffentliche Toilette. Und wenn es eine gibt, befinden sich diese meistens in einem desolaten Zustand. Sie sind zudem ein Ort, an dem Frauen immer wieder von Männern belästigt werden.

Graffiti in Kalkutta. Öffentliches Urinieren gehört in den Slums der indischen Großstädte mangels Toiletten zum Alltag.
Noch prekärer als in den städtischen Armenvierteln ist die Situation auf dem Land. Toiletten gibt es in den abgelegenen Dörfern im ländlichen Indien so gut wie keine. Die Notdurft wird in den Feldern verrichtet. Um sich vor peinlichen Situationen oder Übergriffen zu schützen, gehen die Mädchen und Frauen gemeinsam in die Felder, nach Sonnenuntergang oder in der Morgendämmerung. Doch auch die Gruppe bietet nicht immer Schutz. Erst im Sommer wurden zwei junge Mädchen in einem Dorf in Uttar Pradesh Opfer eines brutalen Übergriffs, als sie im Bambusfeld in der Nähe ihrer Hütte ihre Notdurft verrichteten.
„Toiletten vor Tempel“ – Versprechen der Modi-Regierung
Der indische Premierminister Narendra Modi hat Vorfälle wie diesen zum Anlass genommen, eine „Toiletten vor Tempel“-Kampagne auszurufen. Bis 2019 will er im Rahmen einer umfassenden Hygieneoffensive eine angemessene sanitäre Grundversorgung in den Dörfern und in den Slums der Städte schaffen. Ähnliches hatte sich schon sein Vorgänger Mammohan Singh auf die Fahnen geschrieben. Doch Korruption und mangelndes politisches Durchsetzungsvermögen haben dafür gesorgt, dass die Gelder überall hin flossen, nur nicht in sanitäre Anlagen.
Wie schnell die Mühlen in Delhi unter der neuen Regierung mahlen, bleibt abzuwarten. Bis 2019 kann noch viel Wasser den Ganges hinunterfließen. Oder erneut im Sande verlaufen. Zum Glück gibt es Menschen wie Tara McCartney. Die aus dem nordirischen Newcastle stammende ehemalige Managerin, die ich kürzlich durch eine gemeinsame Freundin kennenlernen durfte, hat Ende 2013 eine Hilfsorganisation ins Leben gerufen – United for Hope. United for Hope setzt genau dort an, wo die alte Regierung bisher versagt hat. Das heißt, der Bevölkerung im ländlichen Indien Zugang zu einer adäquaten Grundversorgung zu verschaffen. Das betrifft in erster Linie sanitäre Anlagen, aber auch sauberes Wasser, Strom und Bildung.

Tara McCartney hat Ende 2013 die NGO United for Hope gegründet. © United for Hope.
Als ich Tara vorletzte Woche in München zum Frühstück treffe, erfahre ich, was sie dazu inspiriert hat, dieses ehrgeizige Projekt zu starten und dafür ihre erfolgreiche Karriere, die unter anderem Stationen bei Unternehmen wie Microsoft, Fujitsu und Deutsche Telekom umfasste, an den Nagel zu hängen. Bei Tara und Indien war es ähnlich wie bei mir: Liebe auf den ersten Blick. Als sie 2011 das erste Mal nach Indien reist, fühlt sie sich sofort magisch angezogen von diesem faszinierenden, facettenreichen, widersprüchlichen Land und den Menschen dort.
Gründung einer NGO – United for Hope
In Jaipur ist sie nach einem Besuch in einem der ärmeren Stadtviertel zu Gast bei der Familie ihres Rikschafahrers. Sie sitzen auf dem Dach des Hauses, ihr Blick fällt auf die Straße, wo Schweine im Abfall wühlen und sich in den Schlaglöchern Unrat und Fäkalien ansammeln. Ihre Gastgeber sind herzlich. Und sehr neugierig auf die hellhäutige Frau mit den blonden Haaren. Es entspannt sich eine Diskussion über den Kontrast zwischen Europa und den Zuständen hier. Überfluss versus Armut und unwürdigen Lebensbedingungen. Tara spürt, dass sie irgendetwas tun möchte. Zurück in Deutschland, informiert sie sich über geeignete Möglichkeiten, spendet selbst Geld, aktiviert Freunde und Bekannte. Sie reist mehrfach nach Indien. Lernt andere Regionen kennen, unter anderem ein kleines Dorf in Uttar Pradesh im Nordosten des Landes, wo Verwandte eines Freundes leben und in dem sie sich sofort heimisch fühlt. Jedes Mal, wenn sie von einer ihrer Reisen zurückkehrt nach München, hat sie das Gefühl, dass das, was sie bisher gemacht hat, nicht ausreicht. Dass sie mehr tun muss. Dass sie mehr tun kann.
Diese Gedanken und mehrere erfolglose Versuche, beruflich im NGO-Umfeld Fuß zu fassen und auf diese Weise zu helfen, münden in dem Entschluss, selbst eine Hilfsorganisation zu gründen. Die Idee für United for Hope war geboren. Das war im September 2013. Nur drei Monate später, im Dezember, ging United for Hope als offiziell anerkannte Nichtregierungsorganisation an den Start. Mit Unterstützung von Freunden und in vielen durcharbeiteten Nächten ist es Tara gelungen, innerhalb kürzester Zeit eine vollfunktionsfähige NGO auf die Beine zu stellen, mit dem notwendigen rechtlichen Rahmenwerk, einer Webseite, einem Logo, Marketingmaterialien, den ersten Spendern sowie Partnern und Freiwilligen auf der ganzen Welt.
Tirmasahun – Toiletten, Straßenbeleuchtung und sauberes Wasser
Heute, nur ein dreiviertel Jahr nach dem Start von United for Hope, können Tara und die etwa 25 ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter von United for Hope auf eine ganze Fülle an erfolgreich umgesetzte Projekte blicken – in Tirmasahun, dem kleinen Dorf in Uttar Pradesh, das sie durch ihren Freund kennen und lieben lernte. Tirmasahun liegt an der Grenze zu Bihar, in einer der ärmsten Regionen Indiens, nicht weit von Kushinagar, der Ort, an dem der historische Buddha gestorben ist. Das Dörfchen ist sehr abgelegen, bis zur nächsten Hauptstraße sind es zehn Kilometer, bis zur nächsten größeren Stadt 80 Kilometer. Die 4.000 Menschen in Tirmasahun leben von der Landwirtschaft oder verdienen ihr Geld als Tagelöhner. Es gibt zwei Schulen im Ort. Geschäfte oder irgendeine Art von Infrastruktur sucht man vergeblich. Bislang gab es im Dorf zudem weder ausreichend Toiletten noch ein Abwassersystem. Das unsaubere Wasser musste gepumpt werden. Elektrizität hatten, wenn überhaupt, nur die wenigsten Haushalte. Die Stromversorgung auf dem Land ist noch fragiler als anderswo in Indien. Manchmal fällt der Strom den ganzen Tag aus.

United for Hope arbeitet an einem Filtersystem für den Zugang zu sauberem Wasser. © United for Hope.
Inzwischen hat sich in Tirmasahun vieles zum Besseren verändert – dank der Arbeit von United for Hope. United for Hope hat in den letzten neun Monaten nicht nur eine solarbetriebene Straßenbeleuchtung installiert, so dass sich die Dorfbewohner auch nach Einbruch der Dunkelheit sicher draußen bewegen können. Mittlerweile haben etwas 50 Familien sowie die zwei Schulen im Dorf Toiletten. Und es werden immer mehr. Es sei schon fast eine Art sozialer Druck innerhalb der Dorfgemeinschaft entstanden, erzählt Tara. Wenn der Nachbar eine saubere Toilette hat, möchte die Familie nebenan auch eine. Insbesondere für die Frauen ist die Errichtung der Toilettenhäuser eine große Erleichterung. In Dörfern wie Tirmasahun, wo ganze Großfamilien auf winzigstem Raum zusammen leben und schlafen, ist die Toilette für die Frauen oftmals der einzige Ort, an dem sie ein Minimum an Privatsphäre haben. Tara erzählt, welche Dankbarkeit ihr insbesondere von den weiblichen Bewohnern des Dorfes bei ihrem letzten Besuch entgegengebracht wurde. Dass manche Frauen Tränen in den Augen hatten. Und wie sehr sie das berührt hat.

50 Familien in Tirmasahun haben nun eine eigene Toilette. © United for Hope.
Bewusstsein schaffen mit Aufklärungsaktionen
Mit dem Installieren von Toiletten ist es nicht getan. Die Toiletten müssen sauber gehalten werden. Es geht auch darum, zu lernen, wie wichtig es ist, sich die Hände mit Seife zu waschen. Und das Wasser aus den Handpumpen vor dem Verzehr abzukochen, bis das geplante Filtersystem installiert ist, das Zugang zu sauberem Wasser ermöglicht. Man müsse erst einmal ein Bewusstsein bei den Menschen schaffen, sagt Tara. United for Hope versteht sich in diesem Zusammenhang als Partner, der Hilfe zur Selbsthilfe leistet und die Menschen nicht wieder einfach sich selbst überlässt. Der Erfolg der bisherigen Projekte geht unter anderem darauf zurück, dass ständig Mitarbeiter der NGO vor Ort präsent sind. Freiwillige, die mit den Leuten sprechen, von Tür zu Tür gehen, mit Fotos und Broschüren, den Zusammenhang erklären zwischen Darmerkrankungen und unsauberem Wasser und öffentlichem Defäkieren. Die darauf hinweisen, dass in Indien jeden Tag 1.600 Menschen an Diarrhöe sterben und dies durch entsprechende Hygienemaßnahmen vermieden werden kann. Die Helfer von United for Hope führen Aktionstage durch wie die „Sauberkeits- und Hygienewoche“ und den „Handwashing Day“ Mitte Oktober, um das Bewusstsein zu schärfen, nicht nur für die Bedeutung von Hygiene, aber auch von Umweltschutz und dem Umgang mit Abfall.
Hohe Resonanz vor Ort – zahlreiche Pläne für die Zukunft
Die Bewohner von Tirmasahun machen engagiert mit bei diesen Aktionen. Die Resonanz ist hoch, auch in der lokalen Presse und bei den Behörden vor Ort, von denen United for Hope umfassende Unterstützung erfährt. Dennoch bleibt noch viel zu tun. Es wird seine Zeit dauern, bis die adressierten Themen in Fleisch und Blut übergehen, sagt Tara. Hierzu sei noch einiges an Aufklärungsarbeit notwendig. Entsprechende Initiativen sind bereits in Planung. Beispielsweise einen Lehrer zu finden und zu finanzieren, der an den beiden Schulen Themen wie Umwelt und Hygiene unterrichten kann. Oder den Bau eines Gemeindezentrums, das Treffpunkt für die Dorfbewohner und Bildungseinrichtung sein wird und dazu beitragen soll, die Kinder und Jugendlichen zusätzlich zur Schulausbildung so vorzubereiten, dass ihnen eine Alternative zur Arbeit auf den Feldern oder in einer Fabrik offen steht.

Tara McCartney reist regelmäßig nach Tirmasahun, um neue Projekte zu initiieren. © United for Hope.
Die Pläne von United for Hope sind ehrgeizig, die Umsetzung nicht zuletzt auch abhängig von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln und der Unterstützung durch ehrenamtliche Helfer. Wer als Privatperson oder als Unternehmen unterstützen möchte, kann gerne Kontakt aufnehmen, entweder über das Kontaktformular auf der Webseite oder per E-Mail info@unitedforhope.org. Und wer am 20.11.2014 noch nichts vorhat, mag vielleicht beim Comedy Club München im Cord Club in München vorbeischauen bei einem ganz besonderen Comedy-Abend mit „Indian Storytelling“. Das Eintrittsgeld kommt den Projekten von United for Hope zugute.
United for Hope hat übrigens durch seine einzigartige Arbeit bereits so von sich Reden gemacht, dass die Organisation kürzlich von McKinsey als eine von 100 jungen NGOs für die Teilnahme an einem durch die Bundesregierung unterstützten Mentorprogramm ausgewählt wurde. Jede teilnehmende NGO bekommt für drei Monaten zwei Coaches an die Seite gestellt, um sich weiter zu professionalisieren. Die NGO mit dem überzeugendsten Projekt erhält in einem zweiten Schritt eine finanzielle Unterstützung. Ich drücke Tara und den Mitarbeitern von United for Hope ganz fest die Daumen dafür und freue mich schon auf das nächste Treffen mit Tara, um Neuigkeiten über die Projekte in Tirmasahun zu erfahren.