Kennt Ihr das Buch “Thousand places to see before you die”? Eine ganze Reihe der dort erwähnten Orte habe ich schon gesehen, viele fehlen mir aber noch. Vielleicht habt Ihr auch eine Liste mit Dingen im Kopf, die Ihr unbedingt in Eurem Leben erlebt oder gemacht haben möchtet? Ich habe eine solche Liste. Ziemlich weit oben steht “Einmal im Leben dem Dalai Lama begegnen”. Als ich vor gut zehn Jahren über eine Freundin jemanden kennenlernte, der eine Audienz bei Seiner Heiligkeit bekommen hat, haben wir immer gewitzelt: “Ja, wenn der Thomas zum Dalai Lama fährt.” Ein bisschen Neid schwang auch mit.
Meinen Besuch im nordindischen Dharamsala, dem Sitz der tibetischen Exilregierung und seit seiner Flucht aus Tibet 1959 das Zuhause des 14. Dalai Lama, im April dieses Jahres hatte ich zeitlich schlecht geplant. Einen Tag bevor wir unser Hotel in Upper Dharamsala bezogen, nur fünf Gehminuten von der Residenz des Dalai Lama entfernt, war er nach Japan abgereist. Dieses Mal sollte ich mehr Glück haben. Wegen Kalachakra, einem der wichtigsten Ereignisse im tibetischen Buddhismus, würde der Dalai Lama zur selben Zeit wie ich in Ladakh sein. Die Gerüchteküche sagte, dass er sich ab 17. Juni in seiner Residenz in Choklamsar, eine halbe Autostunde von Leh entfernt, zu einem “Self-Retreat” aufhalten soll, bevor er in der Zeit bis zum Beginn von Kalachakra verschiedene Dörfer in Zanskar und Klöster in Zentral- und West-Ladhak zu besuchen plant. Annette und Vau, die ich in meinem Meditationskurs kennengelernt hatte, wollten sich am Tag seiner Ankunft irgendwo an der Straße vom Flughafen nach Choklamsar postieren, um ihn zu sehen. Vielleicht hätte ich mich dazu gesellt, aber da befand ich mich schon auf meinem Trek.
Zurück in Leh, erfuhr ich, dass er am 1. Juli ein Teaching im Kloster von Likir abhalten würde. Ich hatte durch Zufall ein paar Ladies aus UK und Kanada kennengelernt, die seit Jahren regelmäßig längere Zeit in Dharamsala verbrachten und ihn schon viele Male erlebt hatten. Eine von ihnen, Mary, wollte dennoch unbedingt nach Likir fahren – und fragte, ob ich mitkommen wollte. Ich war total aus dem Häuschen. Wenn wir einen Tag vorher hinfahren und am 1. nach dem Teaching direkt wieder zurück nach Leh fahren, würde sich das gerade noch mit meiner Weiterreise nach Srinagar einen Tag später ausgehen. Sicherheitshalber registrierte ich mich noch in dem Kalachakra-Büro in der Gompa im Main Bazaar. Es hieß zwar, für das Teaching brauche man das nicht, aber so hätte ich im Fall der Fälle auch Zugang zum “33. Kalachakra for world peace”, sollte ich mich doch noch umentscheiden, mich unter die 150.000 erwarteten Besucher zu mischen.
Müsli und Cappuccino im Yama Café anstatt Dalai Lama in der Gompa von Leh treffen
Am Morgen vor unserem Trip nach Likir saßen wir gerade beim Frühstück im Yama Café in Upper Changspa, als wir erfuhren, das Seine Heiligkeit gerade der Gompa im Main Bazaar seine Aufwartung gemacht hatte. Wie ärgerlich war das denn, ich saß hier gemütlich bei Müsli und meinem zweiten Cappuccino und ließ mir eine solche Gelegenheit entgehen? Aber woher sollten wir das denn auch wissen? Bis auf die Teachings in Padum in Zanskar und in Likir war nichts auf der Webseite des Dalai Lama angekündigt. Obwohl eine aus unserer Runde, Karen aus Banff, über gute Kontakte zum Privatbüro des Dalai Lama verfügte und alle wichtigen Leute kannte, hatte auch sie nichts davon gewusst. Das war dann wohl einfach Pech, man konnte einfach nicht immer zur rechten Zeit am rechten Ort sein.
Wir sollten jedoch dafür doppelt entschädigt werden. Auf halber Strecke zwischen Leh und Likir wurden wir plötzlich an einer Abzweigung von der Hauptstraße von der Polizei angehalten. Es würde ein “VIP” erwartet, hieß es, wir müssten warten, bis der Konvoi durch ist. Die ersten Fahrzeuge waren Armeejeeps mit schwer bewaffneten Soldaten. Vielleicht war der VIP ein wichtiger General der indischen Armee oder ein hochrangiger Politiker? Es folgten Polizeijeeps, ein Sanitätsfahrzeug. Und dann ein gepanzerter, schwarzer Jeep. Mit dem Dalai Lama. Wir haben das gar nicht so schnell registrieren können, waren aber so geistesgegenwärtig, den Polizisten zu fragen, wo er hinfuhr. Nach Ney, ein kleines Dorf, ungefähr zehn Kilometer entfernt. Um eine neue Gompa einzuweihen. Ob wir wohl hinterherfahren dürfen? Dürfen wir. Stanzin, unser Fahrer, war mindestens genauso aufgeregt wie wir und fädelte sich in den Konvoi ein. Ich könne es kaum fassen! Am Straßenrand standen überall Einheimische, festlich gekleidet in ladakhischer Tracht mit langen Gewändern und hohen Hüten, in den Händen Blumengestecke, um Seine Heiligkeit zu begrüßen.
Im Konvoi des Dalai Lama auf dem Weg nach Ney
Wir feuerten Stanzin an, sich nicht abhängen zu lassen. Als wir nochmal von der Polizei angehalten wurden, hatten wir schon Angst, dass es jetzt nicht mehr weitergehen würde, aber wir wurden nur gebeten, eine Ableitung zu nehmen. Die Gompa war schon in Sichtweite, Stanzin ließ uns schnell aussteigen und wir rannten los. Vorbei an den Polizisten zur Security, die erstaunlicherweise noch nicht einmal einen Blick in unsere Taschen werfen wollten und sich auch nicht an meiner Kamera störten. Uns wurde ein Platz in der ersten Reihe an der Treppe zugewiesen, da hockten schon an paar andere “Westerners”, die offenbar Insider-Informationen hatten und vorher wussten, dass der Dalai Lama heute hierher kommt. Hinter uns saßen Schulkinder in Uniform mit ihren Lehrerinnen und Familien aus den umliegenden Dörfern. Auf der anderen Seite der Treppe nahmen die Mönche Platz. Und wo war jetzt der Dalai Lama? Der sei bestimmt in der Gompa, meinte Mary, und seine Ansprache würde per Lautsprecher nach draußen übertragen.
Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich, dass der Dalai Lama schon draußen Platz genommen hatte, vor den Mönchen. Wir verstanden zwar nicht, was er sagte – nachdem dies eine kleine Veranstaltung war, gab es keine englische Übersetzung – aber allein die Präsenz dieses außergewöhnlichen Menschen, der als Sohn armer Bauern in Taktser, einem kleinen Dorf im Nordosten Tibets geboren und im Alter von zwei Jahren als Wiedergeburt des 13. Dalai Lama erkannt wurde, der nur 30 Meter von uns entfernt saß, sorgte für eine ganz besondere Atmosphäre. Ich sah, wie zwei blonde Frauen die Polizisten fragten, ob sie sich hinter die Mönche setzten durften. Sie durften. Was die können, kann ich auch. Ich setzte mich einfach dazu. Und konnte es immer noch nicht fassen, dass uns der Zufall oder das Schicksal oder beides hierher gebracht hatte. Kurz vor der Straßensperre hatten wir noch überlegt, ob wir zum Mittagessen anhalten sollten. Nicht auszudenken, wenn wir wegen ein paar Chow Mein dieses unvergessliche Erlebnis verpasst hätten.
Es ist unglaublich, welche Ausstrahlung und Anziehungskraft dieser Mensch hat, der morgen, am 6. Juli, genau vor 79 Jahren als Lhamo Tondup geboren wurde und aus dem im Alter von vier Jahren Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama und das buddhistische Oberhaupt Tibets wurde. Um seine Augen ist immer ein Lächeln und er macht immer wieder Scherze, während er spricht. Viel zu schnell ist die Zeremonie vorbei. Aber es wartete ja noch das Teaching in Likir auf uns. Auf unserem Weg zum Kloster kamen wir an an einem großen Platz vorbei, wo gerade die letzten Handgriffe an der Bühne angelegt wurden und eine Sprechprobe stattfand. Hier sollten sich am nächsten Morgen gut 1.000 Menschen einfinden, um den Ausführungen des Dalai Lama zu lauschen.
Übernachtung in Likir – Tür an Tür mit Naychen Rinpochey
Wir hatten Glück und ergatterten das letzte freie Zimmer in einem Guesthouse oberhalb des Klosters. Es war eigentlich nicht mehr als eine Kammer für eine Person, aber die Familie organisierte ein zweites Bett, das irgendwie noch hineinpasste. Im Kloster von Likir ging es sonst wahrscheinlich deutlich beschaulicher zu. Heute wimmelte es von Hunderten von Mönchen aus ganz Indien und Pilgern aus der Umgebung. Im Haupttempel lagen Isomatten und Decken. Überall standen Koffer, einige der Mönche hatten hier ihr Schlaflager bezogen, die meisten fanden in der Schule Unterschlupf. Die Hartgesotteneren schliefen im Freien. So wie der junge Tibeter, den Mary aus Dharamsala kannte, der mit dem Motorrad über Manali nach Leh und Likir gekommen war. Die vier älteren Herren, die wir bei einem späten Mittagessen im Klosterrestaurant kennenlernten, waren mit einem Taxi aus Thikse gekommen und hatten bei Einheimischen im Dorf Unterschlupf gefunden. Ein paar der Mönche wohnten in unserem Guesthouse, für sie wurden die zwei hübschen Wohnzimmer neben uns hergerichtet.
Als wir nach Hause kamen, war das Haus in heller Aufruhr. Als wir die Stiege zum Dach emporkletterten, wo unser Zimmer und auch die familieneigene Gompa war, stießen wir mitten in eine Zeremonie. Aus der Gompa kam ein sehr alter Mönch, gefolgt von der Familie und einigen Einheimischen in Tracht und mit Geschenken in der Hand. Das scheint jemand ganz wichtiges zu sein. Wir erfuhren später von einem unserer Mitbewohner, einem jungen, tibetischen Mönch mit Kapuzensweater über seiner Kutte, der in Varanasi studierte, dass es sich um einen hochrangigen Rinpoche aus Südindien handelt, Naychen Rinpochey aus dem Tashi Chunpo Kloster in Bylakuppe in der Nähe von Mysore. Was für eine Ehre, ihn als Nachbarn zu haben!
Die Nacht war kurz. Bevor wir uns um viertel vor sechs auf den Weg machten, den Klosterberg hinabzusteigen und die dreiviertel Stunden zum Teaching Ground zu laufen – einen Bus-Shuttle gab es nur für die Mönche -, gab es aber noch einen Milchtee und das obligatorische Chapatti mit der ebenso obligatorischen künstlich-roten, nach purer Chemie schmeckenden Marmelade. Beides wollte ich eigentlich nach dem Trek nicht mehr essen, aber Müsli und Cappuccino gab es erst wieder in Leh.
Der Sicherheitscheck am Teaching Ground war ebenso lax wie tags zuvor, mein Rucksack wurde nur von außen kurz befummelt und ich musste ein Foto mit meiner Kamera machen. Erstaunlich, wo man am Sitz des Dalai Lama in Dharamsala Kamera und Mobiltelefon abgegeben muss und jede Falte der Tasche gefilzt wurde. Nach langen Diskussionen ließ uns der Security-Guard durch die Absperrung, die das “normale Volk” von dem Platz der Mönche trennte. Erst hieß es, dass man dafür eine spezielle Einladung brauche, die wir nicht hatten. Irgendjemand bequatschte den Mann dann, sagte, dass wir eine Übersetzung bräuchten und dafür bei dem entsprechenden Lautsprecher sitzen müssten. Eigentlich ist es nicht in Ordnung, dass für die “Westerners” eine Extrawurst gebraten wird und wir nun direkt neben der Bühne saßen, während die Einheimischen hinter der Absperrung hockten. Ich war trotzdem glücklich, dass ich so nah dran war!
Dalai Lama Teaching in Likir – “The Heart Sutra”und “Emptiness”
Eigentlich sollte das Teaching erst um acht Uhr beginnen, aber Seine Heiligkeit war schon überpünktlich um viertel nach sieben da. Es sammelten sich immer mehr “Westerners” auf der Plane, die man für uns auf dem sandigen Boden ausgebreitet hatte. Es ging heute um das “Herz-Sutra”, dem Sutra der höchsten Weisheit, erklärte der Übersetzer. Das “Herz-Sutra” ist eines der bekanntesten buddhistischen Sutren und die knappste Zusammenfassung einer sechshundertbändigen Bearbeitung der Lehre Buddhas.
Das Hauptthema war das Konzept der Leerheit, DEM Dreh- und Angelpunkt im Buddhismus – und ein extrem kompliziertes Konzept, selbst für diejenigen, die mit den Lehren Buddhas groß geworden sind. Eine ladhakische Freundin von Mary, die wir in ihrem Shop im Main Bazaar besuchten, hatte versucht, es uns zu erklären, war dann aber letztlich gescheitert. Ich habe nach dem Teaching mit einigen gesprochen, die sich seit Jahren mit Buddhismus beschäftigen und sagten, dass es sehr lange dauert, bis einem dieses Konzept zugänglich wird. Bei “Shunyata” oder der “Leerheit” geht es im Wesentlichen um das Konzept des “Nicht-Seins” und dem Loslassen jeglicher Annahmen, wodurch wir Unabhängigkeit und geistige Freiheit gewinnen können.
Das klingt noch relativ einfach. Den Ausführungen zu folgen, ohne sich vorher mit der Thematik auseinander gesetzt zu haben, war jedoch in der Tat nicht einfach. Kein Wunder, dass buddhistische Mönche sich im Prinzip ihr ganzes Leben mit den Schriften auseinandersetzen. Mich beruhigte, was der Dalai Lama sagte: “One needs lots of study and analysis to understand.” Er betonte gleichzeitig, wie wichtig es jedoch sei, die Philosophie der Leerheit zu verstehen, dieses Konzept, wonach es weder Substanz noch Nicht-Substanz gibt und die äußeren und inneren Erscheinungen lediglich aus der Wechselwirkung von Bedingungen besteht. “It’s the only way to lead the practitioner to buddhahood.” Das heißt, nur wer dieses Konzept versteht und auch umsetzt – unter anderem, in dem er sich freimacht von Anhaftung, falschen Ansichten, Hass und Begehren – hat eine Chance auf Erleuchtung, “to become a perfect Buddha”.
Das ist jetzt nur ein klitzekleiner Ausschnitt aus den etwa dreistündigen Ausführungen. Auch wenn ich mangels intensiver Vorabstudien nicht alles verstanden habe und der Weg zurErleuchtung in weiter Ferne liegt, war dieses Ereignis eindeutig das Highlight meines Aufenthaltes in Ladakh. Zu sehen, mit welcher Intensität, Überzeugung und positiven Ausstrahlung der Dalai Lama auch im hohen Alter die Menschen für sich begeistern kann, ist einfach faszinierend. Interessant war auch zu sehen, dass nicht wenige der westlichen Buddhisten – allen voran diejenigen, die sich für ein Leben als buddhistischer Mönch oder buddhistische Nonne entschieden haben – sich alles andere als buddhistisch verhielten. Das war mir schon vorher in Leh aufgefallen. In der ersten Reihe sitzen, dort einem Sonnenschirm aufspannen, so dass dahinter niemand mehr etwas sehen kann, als erstes seinen großen Thermo-Mug für den Tee-Refill hinhalten, ungefragt Gespräche kommentieren und dabei alles besser wissen finde ich persönlich wenig buddhistisch. Dies jedoch nur als kleine Randbemerkung.
Din
12. Juli 2014 at 16:31Was für ein ganz wunderbares Erlebnis. Da habt ihr ja genau die richtige Entscheidung getroffen. Essen kann man immer auch später… und wofür das alles gut war. Direkt neben der Bühne. Faszinierend.
Selbst der Dalai Lama trägt ein Uhr, wie interessant. Fantastische Bilder und so interessant, was du wahrgenommen hast. Das Verhalten mancher Buddhisten ist aber wirklich sehr unanständig. Schade, dass es da dann auch nicht anders wie im restlichen Leben zugeht. Solch unschöne Ausnahmen trifft man wohl überall und immer.
alexandra
13. Juli 2014 at 7:38ich kann es auch immer noch nicht ganz glauben, dass mir dieses wunderbare erlebnis widerfahren ist! werde ich nie vergessen! ja, spannend mit der uhr, es gibt offenbar doch einige weltliche dinge, auf die man nicht verzichten kann bzw. will. bei den “normalen” mönchen gehören laptop, smartphone, tablet auch zur standardausrüstung, ein bekannter nannte sie “techno monks”. die erfahrung mit den westlichen buddhisten ist hoffentlich nur eine ausnahme.