Ringen in Staub und Schlamm: Die Wrestler von Varanasi

Wrestling. Ausgerechnet. Ich muss sofort an faltige, anabolikagetunte, aufgepumpte, sonnenbankgebräunte und blondierte Muskelmaschinen à la Mickey Rourke denken, der in „The Wrestler“ als Randy the Ram mit ohrenbetäubendem Geschrei auf seinen Gegner springt, um dann dessen Kopf zwischen die Beine zu klemmen und ihn in den Schwitzkasten zu nehmen. Wenn ich beim Zappen durch Zufall bei einem US-Sender hängen bleibe und dort zwei solche Zottelmähnen aufeinander rumspringen sehe, die versuchen, sich im „Flying Head Dive“ oder „Wrist Lock“ zu übertreffen, ist mein Daumen in einer Nanosekunde wieder auf der Fernbedienung. Ich kann diesem animalischen Sport, der es irgendwann sogar zu olympischen Ehren geschafft hat und in den USA eine größere Anhängerschaft hat als Basketball, rein gar nichts abgewinnen.

Entsprechend mäßig ist meine Begeisterung, als es bei meinem Besuch in Varanasi im Rahmen der Uttar Pradesh Travel Writers Conclave 2015 plötzlich heißt, wir gehen zum Wrestling. Nein, bitte nicht. Überhaupt: Wrestling in Indien? Ist das nicht etwas typisch Amerikanisches? Oder etwas, mit dem die Gladiatoren Julias Cäsar und seinen Kollegen im alten Rom zwischen zwei Feldzügen die Langeweile vertrieben haben? Ich weiß, Wrestling ist eine uralte Tradition, aber Wrestling und Indien passte für mich irgendwie nicht zusammen.

Ich wäre viel lieber noch ein bisschen an den Ghats spazieren gegangen, um das morgendliche Treiben der Gläubigen, die ihr rituelles Bad im Ganges nehmen, und die Babas und die Sadhus zu bestaunen. Ich hätte auch viel lieber den Boxenstopp im Sri Ram Bandhar, dem berühmtesten Sweetshop und der besten Frühstückslocation der Stadt, ausgedehnt und noch ein Kachori, das sind mit Moong-Dal und Kartoffeln gefüllte Teigtaschen, oder ein paar der klebrige-süßen Jalebi gegessen. Und dazu einen Chai aus einem der kleinen Tonbecher getrunken, aus denen der Tee nochmal besser schmeckt. Doch nein, wir haben einen Termin. In einem Akhara, eine der zahlreichen Wrestingschulen der Stadt.

Varanasi_Jalebi

Varanasi_Kalchori

Kushti – jahrtausendalte Tradition

Varanasi, die heilige Stadt am Ganges, der Pilgerort, den jeder gläubige Hindu mindestens einmal im Leben besucht haben sollte, ist nicht nur berühmt für seine Ghats und Tempel, sondern auch für Kushti. So wird die traditionelle Form des Wrestlings genannt, die in Varanasi, aka Benares aka Banaras aka Kashi, der ältesten durchgängig bewohnten Stadt der Welt, bereits vor tausenden von Jahren praktiziert wurde. Die erste Akhara in Varanasi geht angeblich auf den großen Dichter Tulsidas zurück. Die von weißen Mauern umgebene Kampfstätte am Tulsi Ghat zog schon vor 5000 Jahren junge Männer an, die sich in den Ring stürzten und ihre Kräfte maßen – wie in den beiden großen indischen Heldenepen Mahabharata und Ramayana. Der Krieger Bhima, einer der Helden der Mahabharata, wird als einer der größten Wrestler seiner Zeit beschreiben. Auch im Ramayana spielt Kushti eine große Rolle. Der Affengott Hanuman war offenbar ein hervorragender Wrestler – ein Grund, warum das Training in den Wrestlingschulen in Indien heute in der Regel mit einem Gebet beginnt, in dem Hanuman geehrt wird.

Bis vor wenigen Jahren gab es noch mehr als 200 traditionelle Akharas in Varanasi. Viele mussten schließen – Nachwuchsprobleme. Cricket schien für die jungen Männer interessanter zu sein. Oder Bodybuilding im Fitnessstudio. Der mit dem Dasein eines Pehalwan, so werden die Wrestler genannt, verbundene Lebensstil erscheint wenig verlockend: no sex, no drugs, no rock’n roll. Kushti ist mehr als nur ein Sport, es ist eine traditionelle Subkultur mit strengen Regeln. Sex ist genauso verboten wie Alkohol und Rauchen. Eigentlich ist alles reglementiert. Was gegessen und getrunken werden darf, welchen Freizeitaktivitäten man nachgehen darf und welchen nicht. Es geht um Disziplin, um einen gesunden Lebensstil. Das ganze Leben dreht sich um Kushti. Als einer meiner Mitblogger einen der Wrestler fragt, ob er raucht oder trinkt, wird er fast mit Blicken getötet. Eine solche Frage ziemt sich nicht, sie geht gegen die Ehre.

Die meisten der Akharas befinden sich in den Gassen der Altstadt, in der Nähe der Ghats. Die Wrestlingschule, die wir besuchen, liegt im neuen Teil der Stadt, an einer vielbefahrenen Hauptstraße. Als wir aussteigen, tost der Verkehr um uns herum, Rikschas, Ochsenkarren, Autos. Ein paar Kuhaugen starren uns an. Ein Sadhu taucht wie aus dem Nichts auf. Posiert für ein Foto. Als wir durch die Pforte treten, habe ich das Gefühl, ich steige aus einer Zeitmaschine, die mich ins alte Rom gebracht hat. Meine Füße versinken im Sand. Ich bin einer Gladiatorenarena gelandet. Vor mir ein beigefarben getünchtes Gebäude, das Erdgeschoss offen, der Boden innen ebenfalls mit einem weichen, feinen Sand bedeckt.

Zu Besuch in einer Akhara

Ich ziehe meine Sandalen aus. Das gehört sich hier so. Ich blicke wieder auf. Mein Blick fällt auf einen muskulösen jungen Mann, nur mit einer Art Lendenschurz bekleidet, der Körper, der Kopf und die Haare mit einer Schlammpaste eingeschmiert, die an einigen Stellen schon getrocknet ist. Das ist Tradition. Der Sand wird mit Ghee vermischt, der geklärten Butter, die in Indien zum Kochen verwendet wird. Diese Schlammpackung ist angeblich gut für die Haut. Der Muskelmann  greift zu einer vorsintflutlich aussehenden Hantel. Zwei Eisenkugeln, die mit einer kurzen Stange verbunden sind. Und lässt seine Bizeps und Trizeps spielen. Sein Kollege greift zu der Eisenstange mit den schwereren Gewichten. Auf den Gesichtern ist keinerlei Anstrengung zu sehen. Disziplin pur. Ich gehe die Treppe hoch. Von hier aus kann ich besser sehen, wie zwei der Wrestler um die Wette in Windeseile an dem dicken Seil hochklettern. Dann ist das Training vorbei. Kampfzeit!

In der kleinen Arena werden noch die letzten Vorbereitungen getroffen, der Boden nochmal geharkt und gelockert. Dann wälzt sich auch schon das erste Kampfduo auf dem Boden, beide sind von oben bis unten mit Staub und Schlamm bedeckt. Ob das die GoPro überlebt, die einer meiner Journalistenkollegen dem Wrestler auf den Kopf gesetzt hat? Aus. Der Trainer gibt ein Zeichen. Bitte Platz machen für die nächsten beiden Kämpfer.

Wir klettern die schmale Treppe hoch in den zweiten Stock, wo es ein wenig moderner zugeht. Hier trainieren die Jüngeren. Nicht im Schlamm, sondern auf Matten. Und nach den Regeln des modernen Wrestling. Jugend trainiert für Olympia. Tatsächlich kommen einige der erfolgreichsten Wrestler aus Indien, wie der Trainer des Akhara berichtet. Ich sollte bei den nächsten Olympischen Spielen bei der Übertragung der Wrestlingkämpfe nicht sofort wegschalten sondern einmal genauer hinschauen. Vielleicht erkenne ich ja eines der Muskelpakete aus Varanasi wieder …

*Zu dieser Reise wurde ich von Uttar Pradesh Tourism eingeladen. Der Text spiegelt meine eigene Meinung wider.

2 comments

  1. Gilt die Abstinenz nur für die aktive Zeit oder ist es eher wie ein Kult/eine Religion zu sehen und auch Wrestler im Ruhestand sind noch den Regeln unterworfen? Sehr interessanter Bericht, mir war das gar nicht bewusst, dass es in Indien eine eigene Ringer-Kultur gibt.

  2. Hallo Tanja, das ist eine gute Frage, das konnte ich leider bei meinen Recherchen nicht herausfinden. Ich vermute jedoch, dass die strengen Regeln nur für die aktive Zeit gelten- Kushti stirbt auch langsam aus, viele der jungen Männer gehen lieber ins Fitnessstudio. Und trinken danach ein kühles Bier ;-). Liebe Grüße, Alexandra

Leave a Comment