Auf dem Land: Pakora, Masala Chai und das Feldbett in Tirmasahun

„Hello. Hello. Tea. Tea.“ Es ist erst sieben Uhr morgens. Ich bin noch im Tiefschlaf. Und würde gerne weiterschlafen. Obwohl mein Bett alles andere als bequem ist und nicht unbedingt zum noch einmal umdrehen und in die Kissen kuscheln einlädt. Jemand rüttelt an meiner Schulter. Shimpy, die Tochter unserer Gastfamilie, die uns wie jeden Morgen Tee ans Bett bringt. Köstlichen, dampfend heißen Masala Chai, mit viel Zucker, in schönen, ziselierten Metallbechern. Uns, damit meine ich das kleine Projektteam von United for Hope, die NGO, mit der ich letztes Jahr im März in Indien war.

Masala Chai im Feldbett, welcome to India

Dem Duft des Tees kann ich nicht widerstehen. Ich pelle mich aus meinem Schlafsack, verheddere mich in dem Moskitonetz, das auf vier Holzstöcken über mein Feldbett gespannt ist und klettere hinüber auf das große Bett zu Tara und Sonia, die inzwischen auch wach sind. Shimpy setzt sich zu uns. Sie lacht, freut sich, dass wir uns über den Tee freuen. Freut sich über den Besuch im Haus. Es klopft, Daria lugt durch die Tür und schon ist sie komplett, unsere morgendliche Runde in dem rosagestrichenen Zimmer in Tirmasahun, einem kleinen Dorf in der Mitte von Nirgendwo, im ländlichen Indien, im östlichen Uttar Pradesh, fünf Kilometer von der nächsten befestigten Straße entfernt.

Ich bin noch immer ein wenig groggy von der langen Anreise. Von München über Delhi und Patna habe ich über 30 Stunden gebraucht bis  Tirmasahun. Die Hitze tut ihr übriges dazu. Eigentlich kann man sich nur in den frühen Morgenstunden und ab späten Nachmittag draußen aufhalten. Ansonsten knallt die Sonne erbarmungslos von dem wolkenlosen Himmel. Ende März steigen die Temperaturen schon auf fast 40 Grad in der nordindischen Ebene. Drinnen ist es nur unwesentlich besser. Klimaanlagen gibt es keine in Tirmasahun. Der Deckenventilator steht auch die meisten Zeit still. Denn Strom gibt es hier nur wenige Stunden am Tag.

Morgenrituale: Pani Garam und Pakora

Trotzdem freue ich mich auf eine warme Dusche. Oder besser gesagt, einen warmen Eimer Wasser, den ich mir über den Kopf kippe. Pani Garam. Heißes Wasser. Shimpy hat schon den ersten Kessel Wasser auf dem Kohlenherd aufgesetzt. Ich folge ihr in den Hof. Auntie, wie wir Shimpys Mutter nennen, hockt auf dem Feldbett und kümmert sich um Bihu, mit anderthalb Jahren das jüngste Familienmitglied. Bihu spielt mit einer Flasche Babypuder, einem Lipgloss und kommt mir auf wackeligen, kurzen Babybeinen entgegen. Bihu’s Augen sind mit schwarzem Kajal dick umrandet, das soll den bösen Blick abwenden.

Auntie gibt mir zu verstehen, ich solle mich zu ihr setzen, bis mein Wasser heiß ist. Anstatt den zweiten Eimer mit Wasser aus der Handpumpe zu füllen, das will Shimpy unbedingt machen, spiele ich also mit Bihu. Und werde dazu genötigt, die frisch frittierten Pakora zu probieren, mit Kohl und Chili. Die hat Babi gemacht, Bihu’s Mutter. Sie hockt über einer großen Schüssel, in der sie den Teig zubereitet. Ob mir das Frittierte, Scharfe auf den leeren Magen guttut? Ich esse die Pakora trotzdem. Sie schmecken köstlich.

Morgenrituale im ländlichen Indien. Wo die Uhren anders ticken. Wenn ich an die Woche in Tirmasahun zurückdenke, denke ich unter anderem an die Zeitlosigkeit des Landlebens. In Tirmasahun scheinen die Uhren stehen geblieben zu sein. In vielerlei Hinsicht. Der Rhythmus des Tages wird von dem Rhythmus der Sonne bestimmt. Auntie, Uncle, Babi, Bihu, Shimpy und ihre drei Brüder stehen schon mit den Hühnern auf. Uncle fährt auf dem Moped ins nächstgelegene Dorf, wo er einen kleinen Kiosk hat. Babi, die Schwiegertochter, Shimpy und Auntie kümmern sich um den Haushalt. Fegen den Hof und die Zimmer. Höhlen Chilis aus und füllen diese mit Chilipulver. Bereiten das Mittagessen vor, das Abendessen.

United for Hope

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Die Zeitlosigkeit des Landlebens

Am frühen Nachmittag eine kleine Pause. Dann hocken sich die drei Frauen auf das große Bett im Schlafzimmer, gucken Fernsehen. Am frühen Abend geht Shimpy in den Tempel. Das ist die einzige Gelegenheit, bei der die 16-Jährige alleine das Haus verlassen darf. Ansonsten ziemt es sich nicht für eine junge Frau in ihrem Alter, sich alleine im Dorf zu bewegen. Unsere Gastfamilie ist sehr traditionell. Babi, die Schwiegertochter, darf das Haus gar nicht verlassen. Sie darf noch nicht einmal auf die Veranda, wo es den ganzen Tag hochher geht. Wo sich die Nachbarn die Klinke in die Hand geben, vorbeikommen auf einen kleinen Plausch.

Wir passen uns dem Rhythmus von Tirmasahun an. Frühstücken, Arbeiten, Mittagessen, Ausruhen, Arbeiten, Abendessen, früh ins Bett gehen. Frühstücken tun wir in der kleinen, provisorischen Küche auf dem Gelände des Community Center von United for Hope. Das war letztes Jahr noch eine Baustelle. Inzwischen ist das Gebäude fertig und die ersten Kurse sind angelaufen: 10 Kinder werden hier jeden Nachmittag unterrichtet. Sie lernen Englisch, lernen, mit dem Computer umzugehen und werden mit Themen vertraut gemacht, die nicht auf dem Lehrplan einer staatlichen Schule in Indien stehen, allen voran Hygiene, Gesundheit, Umwelt und Gleichberechtigung.

Neues Unterrichtsfach: Händewaschen

Tirmasahun hat zwei staatliche Schulen. Eine ist meine morgendliche Anlaufstelle. Hier bringe ich den Kindern bei, wie man sich mit Seife die Hände wäscht. Für uns etwas ganz Banales, Alltägliches. Für die Menschen in einem Dorf wie Tirmasahun nicht. Fließendes Wasser aus dem Wassehahn gibt es hier nicht. Wir stehen an der Handpumpe. Einer muss pumpen, währen die Kinder nach und nach ihre Hände nass machen. Die meisten wissen tatsächlich nicht, wie man mit einem Stück Seife umgeht. Ich zeige ihnen, wie man das Stück Seife zwischen den beiden Handflächen hin und her bewegt. Sie versuchen, es nachzumachen. Einige sind so mit Feuereifer dabei, dass die dicke Seifenschicht bis zu den Ellbogen geht.

Mangelnde Hygiene ist eine der größten Krankheitsverursacher im ländlichen Indien. Ob die drei Frauen, die vor der Küche auf dem Boden sitzen und Kartoffeln für das Mittagessen schälen, sich vorher die Hände gewaschen haben, ist zweifelhaft. Essen tun die Kinder auch auf dem Boden, in ihren Klassenzimmern. Die Lehrer achten inzwischen darauf, dass sich die Kinder vorher an der Pumpe die Hände waschen. Und die Toilette benutzen und nicht auf’s Feld gehen. Sie achten hoffentlich auch darauf, wenn niemand von United for Hope vor Ort ist. Zumindest auf Nikita und Krishna, die beiden Lehrer, die von United for Hope bezahlt werden, ist Verlass. Die beiden sind jung und engagiert, möchten den Kindern etwas vermitteln, sie auf dem Weg in eine bessere Zukunft unterstützen. Und dieser Weg heißt Bildung. Der Rohrstock bleibt bei ihnen in der Ecke. Im Gegensatz zu dem Direktor der Schule, der nicht nur gerne den Rohrstock einsetzt, sondern auch gerne einmal einen Tag gar nicht kommt. So stehe ich eines Morgens auf einem verwaisten Schulgelände. Man hat alle Kinder und die Lehrer wieder nach Hause schicken müssen, weil der Direktor mit dem Schlüssel nicht gekommen ist.

Die zweite Schule im Ort hat noch nicht einmal ein richtiges Gebäude. An der Seite des Hofes gibt es lediglich ein paar Baracken, so dass man bei Regen zumindest ein Dach über dem Kopf hat. Ein Teil der Kinder hockt draußen auf dem Boden, vor sich ein paar Papiere und Bücher. Man würde gerade einen Test schreiben. Richtig ernst nehmen tut den Test jedoch niemand. Die Kinder gucken sich gegenseitig in die Hefte. Zumindest gibt es keinen Rohrstock hier. Ich bekomme ein wenig Hindi-Unterricht. Dann schauen wir bei den anderen Kindern vorbei, die mit zwei Lehrerinnen in den Baracken das Mittagessen vorbereiten, den Teig für die Pappadam in siedend heißes Fett geben.

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„Wann baut Ihr mir ein Haus?“

Viele der Eltern schicken ihre Kinder nur zur Schule, weil sie dort eine Mahlzeit bekommen. Sie selbst sind Analphabeten, arbeiten auf dem Feld. Wenn ich am späten Nachmittag meinen Spaziergang über den sandigen Feldweg in das Nachbardorf mache, kommen mir Frauen entgegen mit Reisigbündeln auf dem Kopf. Ein langer Tag liegt hinter ihnen. Oftmals müssen sie alleine für die Kinder sorgen. Viele der Ehemänner arbeiten als Tagelöhner in Kasia, der nächst größeren Stadt. Nicht alle liefern brav das Geld zu Hause ab, sie vertrinken es lieber. Oder machen sich aus dem Staub. Wie der Ehemann der Frau mit dem orangem Sari, die sich bei mir unterhakt und mir ihre Geschichte erzählt. Auf Hindi, was ich leider nicht verstehe. Adithya, der mit mir auf dem Moped eine Runde durch die fünf Weiler dreht, die zu Tirmasahun gehören, übersetzt. Ihr Mann trinke, habe sie mit einem Haufen Schulden sitzen gelassen. Sie müsse jetzt ihren halbwüchsigen Sohn alleine durchbringen. United for Hope solle ihr ein Haus bauen, mit einer richtigen Toilette. Sie müsse in einer Bambushütte wohnen. Und wann endlich das saubere Wasser käme.

Häuser, Wasser, Toiletten, die großen Themen in Tirmasahun seit sich United for Hope hier engagiert. Häuser kann United for Hope nicht bauen. Doch inzwischen haben fast 80 Prozent der Familien Zugang zu einer Toilette. Allerdings kann es auch diese nicht zum Nulltarif geben. Neben der Unterstützung von United for Hope und einem staatlichen Zuschuss müssen die Dorfbewohner einen kleinen Anteil selber zahlen. Genau wie für das Wasser aus der Wasseraufbereitungsanlage im Community Center, das zu einem vergünstigten Preis abgegeben wird. Was viele zunächst nicht verstehen konnten. Sie hätten es gerne umsonst gehabt. Zweifelten, ob das Wasser wirklich besser ist als das aus ihren Handpumpen. Ist es, denn das Wasser aus den Handpumpen ist verseucht mit Chemikalien und Arsen und Hauptverursacher von Krankheiten.

Unsere Gastfamilie ist für hiesige Verhältnisse relativ wohlhabend. Ein „richtiges“ Haus, ein Kühlschrank, ein gefließtes Bad, eine Toilette, ein Fernseher. Familien wie diese gibt es nur wenige in Tirmasahun, Umprakash und Pinkie, bei denen wir zum Abendessen eingeladen sind, leben noch etwas besser. Haben sogar ein Auto. Eine absolute Seltenheit. Der Großteil der Menschen in Tirmasahun lebt in Bambushütten, nicht selten teilen sich Tier und Mensch dasselbe Zimmer. Durch die offenen Türen sehe ich, wie eine Ziege in einem Bett liegt. Wie Kinder auf dem Boden hocken und Kuhdung mit Stroh vermischen und Ziegel daraus formen. Brennmaterial.

United for Hope

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Basisarbeit durch NGO, Umdenken in den Köpfen

Wir sind auf dem Land, in einer der ärmsten Regionen Indiens, in einer Region, die von der Regierung in Delhi vernachlässigt wird. In einer Region, in der bis dato kein Bewusstsein bestand für Dinge, die für uns selbstverständlich sind. Wie zum Beispiel für Umweltthemen, für Müllbeseitigung und -vermeidung. Auf den sandigen Wegen liegen schon wieder Plastikschnipsel. Auf dem großen Platz im Nachbarweiler häuft sich ein großer Müllberg.

Unser Projektbesuch in Tirmasahun fällt mit dem World Water Day zusammen. Wir organisieren eine Informationsveranstaltung, laden zwei Ärzte aus Kasia ein, die kostenlose medizinische Untersuchungen anbieten. Wir möchten den Ärzten das Dorf von seiner besten Seite zeigen. Ausgestattet mit großen Müllbeuteln und Einweghandschuhen, die ich aus dem DM in Schwabing mitgebracht habe, sammeln wir den rumliegenden Müll ein. Wir, das sind ich und einige Kinder, die ich aus der Schule kenne. Die Jungen sind mit Feuereifer dabei. Freuen sich, zu helfen. Ich würde mir wünschen, dass sie diesen Eifer beibehalten, auch wenn ihnen nicht ständig jemand auf die Finger schaut.

Eine Erkenntnis aus der Woche in Tirmasahun ist: Entwicklungsarbeit hat ihre Grenzen. Eine NGO kann letztlich nur einen Grundstein legen. Kann versuchen, ein Bewusstsein zu schaffen. Das Umdenken muss in den Köpfen stattfinden. Egal, ob es um Themen wie Hygiene, Wasser und Umwelt geht oder um gesellschaftliche Themen wie den Umgang mit Frauen, ein großes Thema im patriarchalisch geprägten ländlichen Indien.

Die sieben Tage in Tirmasahun gehören zu den einprägsamsten sieben Tagen meiner Indienreisen. Ich habe zwar schon verschiedene ländliche Gebiete besucht, doch die waren immer mehr oder wenig touristisch geprägt, sei es im Himalaya oder in Kerala. Nach Tirmasahun hat sich bisher noch kein Tourist verirrt. Tirmasahun ist Indien pur. Ein Stück Indien, das selbst vielen Indern fremd ist. Ein Stück Indien, das auf mich eine ganz besondere Wirkung hatte. Es hat mich traurig und glücklich zugleich gemacht. Es hat mich aufgewühlt und gleichzeitig geerdet. Es hat mich hilflos gemacht und gleichzeitig dankbar. Widersprüchlich, ich weiß. So widersprüchlich wie dieses Land.

United for Hope

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Mehr über United for Hope und den Besuch in Tirmasahun findet Ihr übrigens hier:
Why should I dream – Ein Film über die Frauen von Tirmasahun
Bye-Bye 2015 – Rückblick auf ein unglaubliches Reisejahr
Rucksack gepackt – Mit United for Hope nach Tirmasahun
United for Hope – Junge NGO macht sich stark für ländliche Regionen in Indien

4 comments

  1. Liebe Alexandra,
    vielen Dank für diesen ehrlichen Artikel, der uns als Leser einen unglaublich tiefen Einblick in eine völlig andere Welt bietet. Viele Situationen und Zustände, die du beschreibst, sind in unserer reichen Gesellschaft unvorstellbar. Umso schöner finde ich es, dass du selbst vor Ort warst, um dir ein eigenes Bild zu machen, um den Menschen zu helfen und um diese widersprüchliche Welt zu verstehen.
    Alles Liebe,
    Julia

  2. Liebe Julia, vielen lieben Dank für Deinen Kommentar! Es hat über ein Jahr gebraucht, um diesen Artikel zu schreiben, immer wieder hatte ich das Gefühl, nicht die richtigen Worte zu finden. Ich bin unendlich dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, die Menschen in Tirmasahun kennenzulernen. Wie gesagt, selbst für viele Inder ist ein Leben in einem solchen Dorf unvorstellbar. Es rückt das Leben in eine neue Perspektive. Ich werde irgendwann wieder Gelegenheit haben, die Kids dort zu besuchen, ich kann es kaum erwarten! Liebe Grüße nach Berlin, Alexandra

  3. Hallo Alexandra! Schöner, toll geschriebener Artikel mit wunderbaren Fotos. Hört sich nach einer wirklich ganz besonderen Erfahrung an. Liebe Grüße, Maria

  4. Hallo Maria, freut mich sehr, dass Dir der Beitrag gefällt :-). Es war definitiv eine ganz besondere Woche und ich werde United for Hope sicherlich spätestens nächstes Jahr wieder auf einen Projektbesuch begleiten Liebe Grüße, Alexandra

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