Kaschmir III: Zu Gast auf der „Lily of Nageen“ – Hausboot mit Familienanschluss

Wenn ich einen neuen Blogartikel schreibe, dauert es meistens eine Weile, bis ich die ersten Zeilen tippe. Ich blättere erst einmal durch die passenden Fotos, bleibe hier hängen, dort hängen. Erinnere mich an diese Situation, an jene Begebenheit. An Farben, Gerüche, Gefühle, Begegnungen. Heute morgen beim Frühstück habe ich mir die Bilder angeschaut, die ich auf der Lily of Nageen geknipst habe, dem wunderschönen Hausboot der Karnais auf dem Nageen Lake in Srinagar, auf dem ich letzten Sommer zu Gast sein durfte. Während ich meinen morgendlichen Cappuccino trinke und in meinem Apfelmüsli mit frischen Blaubeeren rühre, erinnere ich mir daran, wie es war, als ich an einem etwas kühlen Julimorgen an der Nagin Bagh aus dem Taxi steige und dort von einem jungen Mann mit langem weißen Baumwollhemd, weißer weiter Hose und einer muslimischen Gebetskappe in Empfang genommen werde.

„So, jetzt hast Du es endlich geschafft nach Srinagar, willkommen auf der Lily of Nageen“, begrüßt mich Ajaz. Er schultert meinen Rucksack und wir laufen durch den wunderschönen Park, der die weniger idyllische Hauptstraße und den malerischen Nageen Lake trennt, auf dem das Hausboot der Karnais ihren Anlegeplatz hat. In der Tür zum Boot wartet schon der Vater des Hauses, eine etwas ältere und rundlichere Ausgabe von Ajaz, mit weißem Schnauzbart und knarziger, rauher Stimme. Wie es sich gehört, wenn man bei jemandem zu Hause zu Gast ist, parke ich meine verstaubten Wanderstiefel neben den anderen Schuhen, die in dem schmalen Eingang des Hausboots stehen.

Ob ich Hunger habe. Und ob. Außer ein paar Keksen am Flughafen in Leh hatte ich noch nichts gegessen. Vielleicht ein spätes Frühstück auf der Veranda? Wunderbar, langsam zeigt sich auch die Sonne. Aber vorher will ich noch schnell mein neues Reich inspizieren. Ich stelle mein Gepäck ab und kann mein Glück kaum fassen. Ein wunderschönes Zimmer mit einem riesigen Bett, bunten Teppichen auf dem Boden und überall Holzschnitzereien und Bilder von Srinagar und den Bergen an den Wänden. So hatte ich mir das vorgestellt.

Frühstück mit Ausblick – Kaschmiri Chai und die obligatorische Tops Mixed Fruit Jam

Auf der Veranda wartet schon ein schön gedeckter Tisch auf mich, die Milch für die Cornflakes in einem antik aussehenden Becher, da kann ich zu Hause nicht mithalten. Auf die obligatorische Mixed Fruit Jam von Tops hätte ich allerdings getrost verzichten können, aber die frischen Kirschen machen es wett. Und natürlich der Kaschmiri-Tee. Im Gegensatz zu dem klassischen Masalai Chai, den man sonst in Indien überall bekommt und der mit Milch und viel Zucker zubereitet wird, handelt es sich beim Kaschmiri Chai um einen Grüntee, dem Kardamon, Nelken und Zimt zugefügt werden. Und traditionell auch Safranfäden oder -blüten, so zumindest das Originalrezept aus der Zeit der Großmogule, die während der heißen Sommermonate ihr Domizil von Amritsar nach Kaschmir verlegten und sich mit Kaschmiri Chai erfrischten.

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Hach, herrlich. Hier könnte ich stundenlang, nein, tagelang sitzen und mich keinen Schritt vor die Tür bewegen. Ich hole mein Buch, schnappe mir noch eine Tasse Tee und freue mich, nach den doch sehr aktiven vier Wochen in Ladakh einfach mal nichts zu tun. Doch die Karnais haben andere Pläne für mich. Was ich mir denn angucken wolle, fragt Papa Karnai, als er den Frühstückstisch abräumt. Ob ich eine Runde mit einer Shikara drehen wolle. Mir die Altstadt ansehen möchte. Oder die Blumengärten der Mogule. Er könne mir einen Trip zusammenstellen und mir einen Fahrer organisieren. Nein, heute mache ich gar nichts mehr. Ich möchte einfach nur die wunderbare, besondere Atmosphäre meiner schwimmenden Pension und die Ruhe genießen.

Das versteht Papa Karnai nur teilweise. Er ist stolz auf sein schönes Boot und freut sich, dass es mir hier gefällt. Die meisten indischen Touristen kommen allerdings nur für ein Wochenende hierher und pressen alles, was Srinagar und Umgebung zu bieten haben, in diese zwei, drei Tage. Am besten inklusive eines Tagesausflugs in einen der Bergorte, Pahalgam oder Gulmarg. Einen ganzen Tag auf dem Hausboot vertrödeln machen nur die wenigsten. Ein bisschen etwas angucken wollte ich mir natürlich schon, aber das hat Zeit. Schließlich hatte ich vor, mindestens zehn Tage in Kaschmir zu bleiben.

Blumen shoppen beim Frühstück? Kein Problem mit den mobilen Shikara-Shops

Papa Karnai trollt sich mit dem Tablett und ich bin alleine mit meinem Krimi. Mit der Ruhe und dem Alleinsein ist es nicht lange hin. Zwar sind hier auf dem etwas abseits gelegenen Nageen Lake nicht so viele Verkäufer in ihren Holzbooten, den sogenannten Shikaras, unterwegs wie auf dem Dal Lake, aber einige wittern dennoch ihre Chance und legen an der Holztreppe an, die zu meiner kleinen Außenveranda hinauf führt. Neben Schmuck und Gewürzen verkaufen die fliegenden oder besser gesagt schwimmenden Händler vor allem Blumen und Blumensamen an die Touristen auf den Hausbooten. Kaschmir hat eine – im wahrsten Sinne des Wortes – blühende Blumenindustrie, die Nachfrage nach Blumen, auch Tulpen, ist riesig in Indien. Auch dem zweiten Blumenverkäufer gebe ich einen Korb, obwohl die bunten Blumen auf seiner Shikara wirklich schön sind. Doch ich habe schon eine kleine Blume auf meinem Tisch stehen. Der ältere Herr, der während des Frühstücks Halt an der Lily of Nageen gemacht hat und fortan jeden Morgen erneut sein Glück versuchen sollte, mir etwas zu verkaufen, hat mir einen kleinen Willkommensgruß für meinen Frühstückstisch geschenkt.

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Schwimmendes Hotel mi Familienanschluss – die Geschichte der Karnais

So, jetzt aber endlich lesen. Nein. Jetzt kommt Ajaz. Ob alles in Ordnung sei und ich etwas brauche. Wann ich zu Abend essen wolle. Abendessen? Ich hatte doch gerade erst gefrühstückt. Es sei wegen des Ramadan. Man würde sich jetzt zurückziehen und am frühen Abend in die Moschee gehen. Ob es in Ordnung sei, wenn ich mein Essen danach bekäme. Natürlich ist das in Ordnung. Wenn ich zwischendurch etwas brauche, solle ich einfach herüberkommen oder dem Boy Bescheid sagen.

Die Karnais wohnten auf einem kleineren, etwas bescheideneren Hausboot direkt nebenan. In einem der großen, bodentiefen Fenster sitzt eine ältere, dickliche Dame mit Kopftuch. Das ist die unverheiratete Tante. Dann gibt es noch zwei kleine Mädchen, die vom Äußeren nicht so ganz hier nach Nordindien passen wollen, sie haben einen japanischen Einschlag. Sie sind die Töchter von Ajaz’ Bruder, der in Japan lebt und mit einer Japanerin verheiratet war und mich vor dem Abendessen auf der Veranda besucht, um mit mir zu plaudern. Seine Töchter leben hier bei den Großeltern und gehen in Srinagar zur Schule. Er möchte nicht, dass die Mädchen in der von Anime, Fernsehserien, Computerspielen und Konsum geprägten japanischen Gesellschaft aufwachsen. Er sieht sie nur, wenn er seine Familie besucht so wie jetzt. Er hat Ingenieurwesen studiert und arbeitet bei einer großen japanischen Firma. Ajaz hat Tourismus studiert und ist gerade dabei, das Geschäft mit dem Hausboot und dem kleinen Reisebüro in der Stadt von seinem Vater zu übernehmen und zu modernisieren.

Das alles erfahre ich in weniger als zwölf Stunden. Aus einem Nachmittag, den ich eigentlich mit Lesen und Dösen verbringen wollte, wird eine Einführung darin, wie eine kaschmirische Großfamilie auf einem Hausboot lebt. Ich fühle mich, als gehörte ich schon fast zur Familie, mit dem kleinen Unterschied, dass ich von vorne bis hinten bedient werde und jede halbe Stunde gefragt werde, ob ich etwas brauche. Nachmittagstee, Kekse, Wasser. Es fühlt sich ein wenig komisch an, als ich zum Abendessen in den Salon gebeten werde, an der großen Tafel Platz nehme und mir Ajaz’ Bruder das frisch zubereitete, vegetarische Abendessen serviert. Er habe gekocht, sagt er, Dal und ein Gemüsecurry mit Blumenkohl und Kartoffeln, Alo Gobi. Sehr lecker!

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Gin Fizz, Rotwein oder Kingfisher? Nicht im Ramadan …

Da sitze ich, alleine in dem großen Salon der Lily of Nageen, mit einem köstlichen indischen Mahl aus der Tiffinbox. Eigentlich ist es draußen noch viel zu schön, um im Wohnzimmer zu sitzen. Also ziehe ich kurzerhand um auf die Veranda. Ich stelle mir vor, wie die kolonialen Briten vor mehr als 100 Jahren hier gegessen haben mögen. Ob die auch indisches Curry gegessen haben oder ihren kaschmirischen Koch in die Geheimnisse der Zubereitung von Roastbeef, Pork Pie und Yorkshire Pudding eingeweiht haben? Wahrscheinlich letzteres.

Ich genieße den Blick auf den See, wo die Kingfisher-Vögel nach ihrem Abendessen suchen. Ein Gläschen Wein oder ein kühles Kingfisher wäre jetzt schön, meinetwegen auch ein Gin Tonic, aber nachdem Ramadan ist, steht das sicherlich außer Frage. Wahrscheinlich hätten die Karnais die Frage nach einem Bier noch befremdlicher gefunden als ohnehin schon die Tatsache, dass ich als Frau aus dem Westen alleine durch Kaschmir reise. Das kommt nicht so häufig vor, sagen sie. Also trinke ich statt dessen die fünfte Tasse Kaschmiri Tea und lasse meinen ersten Tag auf der Lily of Nageen glücklich und zufrieden ausklingen. Life ist nice …

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3 comments

  1. Wenn ich diese Artikel lese,habe ich das Gefühl ich bin dort. Toll 🙂

  2. das freut mich, conny :-).

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