Gangotri

Yatra nach Gangotri: Pilgern zu den Ursprüngen des heiligen Ganges

„Alexa, you might not believe it, this is the happiest moment in my life.“ Anand drückt meine Hand. Seine dunkelbraunen Augen schimmern feucht. Tränen. Tränen der Freude. Und des Glücks. Seine Stimme ist belegt. Doch, ich glaube ihm. Für Anand ist das nicht nur der glücklichste Tag seines Lebens, sondern auch eines der wichtigsten Ereignisse. Anand ist gläubiger Hindu. Eine Pilgerreise in den Wallfahrtsort Gangotri ist einer der Höhepunkte im Leben eines jeden Hindu, mehr noch als ein Besuch in Varanasi, dem alten Benares.

Mein Blick schweift in unsere kleine Runde. Madu, Supriya, Saahir, Chana, Prakash – sie alle haben glänzende Augen während der Puja, die wir an diesem kühlen Vormittag Ende Oktober mit einem Priester aus dem Tempel von Gangotri erleben dürfen. Dieser Moment an den Ghats, am Ufer des Ganges, ist für uns alle etwas Besonderes. Obwohl nur die wenigsten von uns Hindus sind. Chana, meine #YouWanderWePay-Co-Bloggerin aus New York, ist Jüdin, Supriya, die Fotografin vom Lonely Planet Magazin, kommt aus einer Parsi-Familie, Saahir, unser Gruppenkoordinator von der Times of India Group, die diese Reise organisiert hat, stammt aus einer Zoroastrier-Familie aus Gujarat. Und ich bin evangelisch getauft, allerdings schon lange aus der Kirche ausgetreten. Egal ob Hindu, Parsi, Zoroastrier, Jude, Christ, Nihilist oder Atheist – Gangotri, dieser kleine Ort am Eingangstor zum hohen Himalaya, macht etwas mit seinen Besuchern.

Puja, heilige Zeremonie am heiligen Fluss

Vor uns auf dem Boden sitzt ein Priester, einer der zehn Brahmins aus dem Dörfchen Mukhba, die sich um die Rituale im Tempel und am Fluss kümmern. Neben ihm steht ein Silberteller mit rotem, gelbem und orangefarbenem Pulver, Räucherstäbchen, einer Rolle mit Baumwollband und einigen Zweigen. Er stellt den Kupferkrug ab, mit dem er zuvor Wasser aus dem Fluss geholt hat. Zündet die Räucherstäbchen und die Öllampe an. Rezitiert dabei leise immer wieder dasselbe Mantra. Ein Mantra, das der heiligen Mutter Ganges gewidmet ist, „Ganga Ma“, wie die Inder sie auch manchmal nennen, und die hier im Tempel von Gangotri als Göttin verehrt wird.

Nun bin ich an der Reihe. Mit einem Löffel schöpft der Priester etwas Wasser aus dem Krug in meine hohle Hand. Ich führe sie zum Mund. Zögere einen kurzen Moment. Doch ich trinke das Wasser. Obwohl es aus dem Ganges kommt. Oder gerade weil es aus dem Ganges kommt, dem heiligen Fluss. Anand stupst mich an, gibt mir zu verstehen, dass ich das Wasser trinken soll. Und mir keine Gedanken machen soll. Hier in Gangotri, nahe des Ursprungs des Ganges, ist der Fluss noch klar und sauber. Der Priester benetzt seinen Zeigefinger mit etwas Wasser, taucht ihn abwechselnd in das rote, gelbe und orangefarbene Pulver und drückt mir einen Punkt zwischen die Augenbrauen.

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Ich hatte auf meinen Reisen in Indien schon häufiger an solchen Zeremonien, sogenannten Pujas, teilgenommen, doch keine hat mich so bewegt wie diese. Ich muss mich kneifen, kann es selber nicht fassen, dass ich tatsächlich hier bin. Dass ich fünf Minuten vorher meine Füße im Ganges gebadet habe, der hier oben auf über 3.000 Metern eiskalt ist, aber so klar, frisch und sprudelnd, das man sich am liebsten hineinstürzen möchte. Doch dafür ist es mir zu kalt. Mir wird noch kälter, als ich jemanden auf einem kleinen Felsen erspähe, einen Mann mit einem Lungi um den Hüften, der patschnass ist, genauso wie sein Körper. Ihm ist es offenbar egal, wie kalt der Fluss ist. Wer nach Gangotri kommt, kommt eigentlich hierher, um ein rituelles Bad zu nehmen. Um sich rein zu waschen. Um Körper und Seele zu reinigen, in der Mutter aller Flüsse. In dem Fluss, dem eine reinigende Wirkung nachgesagt wird, und der auch Energie geben soll, der nähren soll, wie eine Mutter.

In den indischen Epen ist zu lesen, dass im Ganges Amrit fließt, der Nektar der Götter, der ewiges Leben verspricht. Viele Hindus glauben, dass das Wasser aus dem Ganges in Gangotri eine heilende Wirkung hat. Die Pilger, die hierher kommen, nehmen Wasser mit nach Hause. Und verteilen kleine Portionen davon an die Mitglieder der Großfamilie, die nicht mitkommen konnten auf diese Pilgerreise. In den Geschäften links und rechts der kleinen Straße, die zum Tempel führt, kann man zu diesem Zweck Plastikbehälter kaufen. Kleine, mittelgroße und große Kanister. Mit rotem oder blauem Deckel. Ich sehe zwei Soldaten an einem Stand, an dem frische Jalebi in bruzzelndem Öl zubereitet werden, jeder mit einem Kanister in der Hand. Prakash, unser Guide, der uns auf unserer kleinen Pilgerreise in Uttarakhand im Rahmen der Uttarakhand Travel Writers’ Tour 2015 begleitet, hat einen großen Kanister von zu Hause mitgebracht, der inzwischen bis oben mit Wasser gefüllt ist. Der Kanister fährt für die restliche Woche mit uns im Auto spazieren, neben dem Karton mit den Chips, Keksen und den unzähligen Flaschen Thumbs up, der indischen Variante von Coca Cola, unserem Proviant für die langen Fahrten.

Gangotri, Yamunotri, Kedarnath und Badrinath – die „Char Dam“

Gangotri, ich wollte schon 2014 herkommen. Da war ich für eine Woche in Rishikesh, 250 Kilometer von Gangotri entfernt und Ausgangsort für eine Pilgerreise zu den vier heiligen Wallfahrtsorten in Uttarakhand. Doch ich war damals im Juli hier, zur Regenzeit. Ich hatte von Schlammlawinen gelesen und von Dauerregen. Und von der anstrengenden, aufwendigen, langen Fahrt. Diese hätte ich mit öffentlichen Bussen zurücklegen müssen, denn als Solotraveler ein Auto mit Fahrer zu mieten für eine solche Strecke ist selbst in Indien teuer. Also blieb ich in Rishikesh. Doch mir ging sie nicht aus dem Kopf, die Yatra zu den „Char Dam“, wie die vier Wallfahrtsorte in der Bergregion Garwhal genannt werden, die im 9. Jahrhundert von einem Reformer namens Shankar gegründet wurden.

Gangotri, Yamunotri, Badrinath und Kedarnath, die vier heiligen Orte im Himalaya. Hier entspringen die vier Quellflüsse des Ganges, des heiligen Flusses der Inder. Vier Orte der tiefsten religiösen Verehrung. Fast 1.000 Jahre legten die Hindus die Yatra, die Pilgerreise zu den heiligen Schreinen in Garwhal, zu Fuß zurück. In den Sechzigern des letzten Jahrhunderts hat das Militär Straßen gebaut. Doch der Weg bleibt beschwerlich. Reisen über Bergstraßen und Bergpässe braucht seine Zeit. Und zu den eigentlichen Quellen kommt man nur zu Fuß. Jedes Jahr nach der Schneeschmelze, ab Mai bis November, machen sich Millionen von Hindus auf den Weg zu den „Char Dam“.

In der Regel beginnt eine solche Yatra in Yamunotri, im Nordwesten gelegen. Sie führt über Gangotri weiter Richtung Osten nach Kedarnath und Badrinath. Wir haben leider nur eine Woche Zeit und haben noch einige andere Orte auf unserem Programm, so dass wir es leider nur nach Gangotri schaffen. Gangotri liegt in einem engen, bewaldeten Tal. Allein die Fahrt von unserem Camp in der Nähe von Harsil ist ein Erlebnis. Sie führt uns durch Zedern- und Kiefernwälder, über eine der höchstgelegenen Brücken der Welt, in einen kleinen Ort, an dem die Welt zu Ende sein scheint. Ein Parkplatz, eine Straße mit ein paar Gästehäusern, Geschäften und Restaurants. Sonst nichts. Außer einem Tempel. Einem kleinen und bescheidenen Tempel, der einer der heiligsten und wichtigsten in ganz Indien ist. Interessanterweise von einem Nepalesen erbaut, einem Gorkha-General namens Amar Singh Tapa.

Gangotri-Brücke

Gangotri-Restaurant

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Gangotri-Tempel-Glocken

Im Tempel von Gangotri wird die Flussgöttin Ganga verehrt. Nur noch wenige Wochen, dann wird der Tempel geschlossen. Die Abschlusszeremonie findet jedes Jahr nach Deepawali statt, im November, bevor der erste Schnee kommt. Dann wird Gangotri zugesperrt. Die Restaurantbetreiber, die Shopbesitzer und die Priester kehren zurück in ihre Heimatdörfer. Zurück bleibt nur „Ganga Ma“, die weiter nach Haridwar und Varanasi fließt und irgendwann im Golf von Bengalen mündet. Wir haben Glück und in Gangotri hat man noch nicht zugesperrt. Der Tempelbetrieb läuft noch. Es ist auch erst Ende Oktober. Wir werden auf einen Tee eingeladen vom Hauptpriester und erfahren ein wenig mehr über die Geschichte von Gangotri. Von „Ganga utari“, dem Ort, an dem der Ganges aus dem Himmel entsprang und auf der Erde niederging.

Von Gangotri nach Gaumukh, zur Quelle von „Ganga Ma“

Gangotri ist der abgelegenste der vier heiligen Orte in Garwhal. Von hier ist es nur ein Katzensprung bis nach Tibet. In Gangotri endet die Straße. Wer weiter Richtung Norden möchte, nach Gaumukh zum Beispiel, muss zu Fuß weiter. Gaumukh, das Kuhmaul. Die Eishöhle oben auf 4.000 Metern, aus der der Ganges entspringt, sieht aus wie ein offenes Kuhmaul. Eigentlich heißt der Ganges hier Baghirathi. Der Baghirathi ist einer der vier Quellflüsse des Ganges. Er gilt als der heiligste von ihnen und trägt den Namen des Mannes, der Lord Shiva einst darum bat, den Ganges zur Erde fließen zulassen. Lord Shiva folgte diesem Wunsch, doch die Wassermassen waren gewaltig. Er nahm die Wassermassen in seinem Haar auf, woraus die vier Quellflüsse entstanden. So besagt es zumindest die Legende.

Gaumukh kann man über einen gut ausgebauten Pilgerweg erreichen, der oberhalb des Tempels beginnt und 18 Kilometer bis nach Gaumukh hinaufführt. Wie ich die bunt gemischte Truppe aus jüngeren und älteren indischen Pilgern beneide, die unten am Parkplatz laut schnatternd und lachend mit ihren Rucksäcken und Wanderstöcken sitzen und auf ihre Fahrer warten. Lauter strahlende Gesichter. Der Trek zur Quelle sei eine großartige, einzigartige Erfahrung gewesen, erzählen sie. Wie gerne wäre ich diese Route gegangen. Noch wäre es von der Jahreszeit gegangen, bevor Schnee und Eis den Weg unpassierbar machen. Grund genug, noch einmal zurückzukehren nach „Ganga utari“ …

Gangotri-Trekking

Währen der einwöchigen Reise durch die Region Garwhal sind wir noch tiefer eingetaucht in die Faszination von „Dev Bhoomi“, dem Land der Götter, wie Uttarakhand auch genannt wird. Mehr zum Zauber von Orten wie Harsil, Mukhba und Uttarkashi könnt Ihr im nächsten Blogpost lesen. Seid gespannt :-).

*Die Reise erfolgte auf Einladung des Uttarakhand Tourism Development Board. Der Text spiegelt meine eigene Meinung wider.

2 comments

  1. Vielen Dank für den Artikel. Wir waren 1993 dort und anscheinend hat sich nicht dramatisch viel verändert. Dank deines Beitrages konnte ich wieder in Erinnerungen versinken. Namaste!

  2. Lieber Gero,

    herzlichen Dank für Deinen Kommentar und schön, dass Du durch die Lektüre nochmal einsinken konntest in diesen einzigartigen Ort! Spannend zu hören, dass Du vor so vielen Jahren schon mal dort warst und die Zeit stehen gelieben zu sein scheint!

    Namaste
    Alexandra

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